Tagung 2017 / Nachlese

Preisverleihung

Verleihung des Bertha-Pappenheim-Preises an Frau PD Dr. med. Ursula Gast.

Rede von Michaela Huber

Ursula Kaps vom Insel-Gymnasium in Burg auf Fehmarn hat sich den Biologie-Preis von Jugend forscht im Jahre 1975 an einer Klientel erarbeitet, die noch nicht wirklich erkennen ließ, wohin es sie später ziehen würde: Ihr Interesse galt damals – der Weinbergschnecke. Damals ahnte man noch nicht, dass der Titel Ihrer Arbeit über den Stoffwechsel der gehäusetragenden Helix pomatia auf geradezu prophetische Weise die Arbeitsfortschritte mit ihrer späteren Klientel, den komplex traumatisierten und hoch dissoziativen Patientinnen vorwegnehmen würde: "Im Schneckentempo". Auch um schwer traumatisierte Menschen behandeln zu können, braucht es geduldige Beobachtung, sorgfältige Diagnostik und ein feines Gespür – und auch in dieser Arbeit geht es manchmal nur im Schneckentempo voran Richtung Heilung. Hier enden dann aber auch die Parallelen zwischen früher und heute. Außer einer, die alle feststellen können, die unsere Preisträgerin kennen: Ihr Lächeln ist immer noch dasselbe.

Ursula Gasts beruflicher Weg führte nach dem Abitur 1975 nach Kiel, wo sie an der Christian-Albrechts-Universität Medizin studierte, gefolgt von einer Psychotherapie- und Facharzt-Weiterbildung an der Medizinischen Hochschule Hannover. Dort war sie von 1995 bis 2003 Leiterin der Psychotherapie-Weiterbildung der Abteilung klinische Psychiatrie und Psychotherapie und habilitierte sich 2002 mit dem Thema:

"Komplexe Dissoziative Störungen – Konzeptionelle Untersuchungen zur Diagnostik und Behandlung der Dissoziativen Identitätsstörung und ähnlicher Erkrankungen.".

Von 2004 bis 2009 war sie Chefärztin der Klinik für psychotherapeutische und psychosomatische Medizin des Evangelischen Johannes-Krankenhauses in Bielefeld, und seit 2010 arbeitet sie in eigener kassenärztlichen Praxis in Mittelangeln in Schleswig-Holstein.

Ursula Gast ist nicht nur Mitglied unserer und der DeGPT-Trauma-Fachgesellschaft, bei der sie Gründungsmitglied ist, sondern auch Mitglied der Steuerungsgruppe zur Erarbeitung von Leitlinien zur Behandlung Posttraumatischer Belastungsstörungen. Sie war unter anderem federführend bei der Übersetzung, Bearbeitung und Validierung des Strukturierten Klinischen Interviews für dissoziative Störungen SKID-D, sowie bei der Übersetzung und Bearbeitung der Behandlungsempfehlungen für die dissoziative Identitätsstörung der Internationalen Fachgesellschaft für dissoziative Störungen ISSTD. Sie hat zahlreiche Publikationen in Fachzeitschriften und Büchern zum Thema Posttraumatische und Dissoziative Störungen vorgelegt sowie zu Trauma und Trauer. Neben ihrer Praxistätigkeit als Psychotherapeutin und Supervisorin gibt sie regelmäßig Psychotherapie-Seminare an verschiedenen Ausbildungseinrichtungen und auf Tagungen, etwa den Lindauer Psychotherapiewochen.

Wir ehren heute die Privatdozentin Dr. med. Ursula Gast, indem wir ihr den mit 500 Euro natürlich viel zu niedrig dotierten "Bertha-Pappenheim-Preis" 2017 überreichen.


Bertha-Pappenheim-Preis
der deutschen Gesellschaft für Trauma und Dissoziation

Der Bertha-Pappenheim-Preis wurde bisher an zwei Frauen verliehen:

  • 2007 an Prof. Dr. med. Luise Reddemann und
  • 2011 an Dipl. Psych. Michaela Huber.

Beide haben sich außerordentlich für die Erforschung und das Verständnis von den Folgen schwerer Traumatisierungen in der Kindheit und für die Behandlung komplex traumatisierter Menschen, vor allem Frauen, eingesetzt. Ihr Engagement und ihr Werk werden mit diesem Preis gewürdigt.

"Wenn wir den Lebenslauf dieser Frauen kennen, ihre Jugend, ihre Psyche, dann werden wir verstehen, was sie so weit brachte, Prostituierte zu werden. Dann werden wir in vielen Fällen zugeben müssen, dass von einer Freiwilligkeit im Sinne eines freien Entschlusses nicht die Rede sein kann."

Die bedeutende Sozialpionierin und Gründerin des Jüdischen Frauenbundes Bertha Pappenheim wurde am 27.02.1859 in Wien geboren, wo sie auch aufwuchs. Sie zog 1888 mit ihrer Mutter in deren Heimatstadt Frankfurt. In der jüdischen Gemeinde Frankfurts engagierte sie sich für die Emanzipation der Frau in der jüdischen Tradition. Sie entwickelte aus der traditionellen Armenpflege eine professionelle Sozialarbeit, kämpfte für die Rechte der Frauen, gegen Mädchenhandel und Mädchenhändler. Auch übersetzte sie bedeutende Schriften aus der jiddischen Literatur, u.a. die "Memoiren der Glückel von Hameln", die eine entfernte Verwandte von ihr ist. Sie veröffentlichte verschiedene phantasievolle Geschichten für Kinder und politische Schriften. 1895 wurde sie Heimleiterin im jüdischen Mädchen-Waisenhaus in Frankfurt, gründete 1902 den Israelitischen Mädchenclub und 1904 den Jüdischen Frauenbund, der als Dachverband alle bestehenden jüdischen Frauenvereine in Deutschland in sich vereinte. Ende der 20er Jahre umfasste er 50.000 Mitglieder. 1907 wurde das Heim für gefährdete Mädchen und nichteheliche Mütter in Neu-Isenburg bei Frankfurt eröffnet. Einen Großteil ihres Vermögens spendete sie der Sozialarbeit. Seit 1917 war sie führende Mitarbeiterin der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Bertha Pappenheim unternahm Reisen nach Galizien und in den Nahen Osten, auf denen sie sich über die dortige Lage der jüdischen Bevölkerung informierte und darüber Berichte veröffentlichte. Ganz besonders interessierte sie sich für die Situation der Frauen. Schon 1901 hatte sie an einer Konferenz zum Thema Mädchenhandel teilgenommen, und 1923 wandte sich der Jüdische Frauenbund im Kampf gegen Mädchenhandel und Prostitution an den Völkerbund.

Wie der Biograph Freuds Ernest Jones 1953 herausfand, war Bertha Pappenheim eine Patientin des Wiener Arztes Josef Breuer, der sie wegen Halluzinationen, Lähmungserscheinungen und Sprachstörungen in Behandlung nahm. Diese Symptome entwickelten sich, als Bertha Pappenheim ihren Vater pflegte, der erkrankte, als sie 21 Jahre alt war. Nach dem erfolgreichen Abschluss der Behandlung veröffentlichte Breuer gemeinsam mit seinem Assistenten Sigmund Freud 1895 die "Studien über Hysterie". Bertha Pappenheim ging als die "Patientin Anna O." in die Geschichte der Psychoanalyse ein. Sie entdeckte die "talking cure" und die "kathartischen Methode", die Freud von ihr für psychotherapeutische Behandlungen übernahm.

Sie hat nie öffentlich über ihre Krankheit und Behandlung gesprochen. Die Krankengeschichte der Anna O. ist eine der ersten, in der eine komplexe dissoziative Störung beschrieben und veröffentlicht wurde. Sie war eine starke Frau, die sowohl gesellschaftlich für die Situation von jüdischen Mädchen und Frauen viel in Bewegung setzte als auch die Geschichte der Psychotherapie entscheidend beeinflusste. Durch den Bertha-Pappenheim-Preis soll die Erinnerung an diese großartige Frau erhalten bleiben.